Der unumgängliche Nazivergleich
Der unumgängliche Nazivergleich

Der unumgängliche Nazivergleich

Godwins Gesetz

Dieses Phänomen hat der amerikanische Rechtsanwalt und Sachbuchautor Mike Godwin Anfang der 1990er-Jahre beschrieben. Das nach ihm benannte Godwins Gesetz („Godwin’s Law“) besagt, dass im Verlaufe längerer Diskussionen mit zunehmender Dauer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Nazi-Vergleich einbringt, sich dem Wert Eins annähert. Godwins Gesetz beschrieb ursprünglich ein Phänomen in der – sich damals bildenden – Internetkultur. Tatsächlich ist dieses Phänomen auch schon längst außerhalb des Internets gängige Praxis geworden. Zur Hochzeit der Griechenlandkrise wurden Angela Merkel und Wolfgang Schäuble in griechischen Medien in Nazi-Uniform dargestellt. Zudem kommt es immer mal wieder bei deutsch-polnischen Spannungen zu solchen Entgleisungen.

Alles Nazis – Die inszenierte Entgleisung

Aktuell gibt es verschiedentliche Spannungen sowie Verstimmungen zwischen der Bundesregierung sowie der Regierung der Türkischen Republik. Rund einen Monat vor dem wichtigen Referendum zur Änderung der türkischen Verfassung kämpft die türkische Regierung buchstäblich um jede Stimme. Da im Rahmen des Referendums tatsächlich alle türkischen Bürger zur Abstimmung aufgerufen sind, fällt hier den Auslandstürken eine besondere Bedeutung zu. In Deutschland allein leben rund vier Millionen türkeistämmige Bürger, knapp 1,5 Millionen davon sind abstimmungsberechtigt. In ihrer offensichtlichen Verzweiflung versucht nun die türkische Regierung verschiedene Veranstaltungen in anderen Ländern gewissermaßen zu erzwingen. In Deutschland wurden kürzlich verschiedene Veranstaltungen aus Sicherheitsgründen abgesagt. In den Niederlanden erklärte die Regierung, dass solche Veranstaltung die öffentliche Sicherheit gefährden würden und verweigerte am heutigen Samstag sogar dem türkischen Außenminister die Landeerlaubnis in den Niederlanden.

Die Reaktionen seitens der türkischen Regierung auf diese Entscheidungen erfolgten prompt. Kurz zusammengefasst: alles Nazis. In den Niederlanden und in Deutschland sowieso.

…wird bedeutungslos

Die Nationalsozialisten haben schon vor ihrer „Machtergreifung“ unliebsame Stimmen zum Schweigen gebracht. Die Nationalsozialisten haben unmittelbar nach dem 30.01.1933 die Regionalparlamente sowie die Medien gleichgeschaltet. In den Regionalparlamenten sollte exakt die gleiche Sitzverteilung herrschen wie auch im Reichstag. Gleichzeitig war es den Medien nicht mehr möglich unabhängig, frei und kritisch über das Gebaren der neuen Regierung zu berichten. Sie hatten sich dem zu beugen, was Joseph Goebbels aus seinem neu geschaffenen Reichspropagandaministerium verlautbaren ließ. Keine Rückfragen, keine kritische Analyse. Wer sich dem widersetzte, bekam ernsthafte Probleme mit der Reichsregierung.

Die Nationalsozialisten haben Europa und die Welt rund 20 Jahre nach dem Ende des Ersten in den Zweiten Weltkrieg geführt, welcher zwischen 50 und 80 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Die Nationalsozialisten haben in ihrem Rassenwahn allein mehr als 5 Millionen Juden systematisch getötet, vernichtet. Die Nationalsozialisten haben im Euthanasie-Programm für sie lebensunwertes Leben ausgelöscht. Die Nationalsozialisten haben unzählige Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen Menschen und Staaten begangen. Die Nationalsozialisten haben für sich in Anspruch genommen die einzig wahre Instanz für alles, was Recht ist zu sein. Widerstand und Opposition wurden konsequent unterdrückt und ausgeschaltet.

Die Verbrechen der Nationalsozialisten sind dermaßen herausragend einmalig, dass ein jeder Vergleich einer Verhöhnung der vielen Millionen Opfer ihres kompletten Wahns gleichkommt. Wer also einen solchen Vergleich anstellt, hat entweder aus der Geschichte nichts gelernt, er möchte einfach nur seinen Frust ablassen oder aber von seinen eigenen Verfehlungen ablenken.

Tatsächlich ist der Nazi-Vergleich in einem Diskurs – auf welcher Ebene auch immer – mit der Bundesrepublik unausweichlich. Er ist vorhersehbar. Dadurch aber wird er bedeutungslos. Viel schlimmer noch: er raubt jeglicher Diskussion im Anschluss an diesen Vergleich jedwede geartete Grundlage, welche unerlässlich für einen konstruktiven Diskurs ist. Er ist nicht mehr und nicht weniger als eine inszenierte Grenzüberschreitung ohne weitere Bedeutung.

P.S. In Deutschland ist es rechtlich so geregelt, dass die Leugnung oder Verharmlosung dieser abscheulichen Verbrechen der Nationalsozialisten unter Strafe steht. Dieses Land ist eben nicht dem Hurra-Nationalismus verfallen, wie andere Nationen der Welt. Es ist den Menschen hier bewusst, was in der Vergangenheit passiert ist. Ebenso bewusst ist man sich, was eben den Weg zu dieser Katastrophe bereitet hat.

Unendliche Ironie

Wie es die türkische Regierung mit Aussagen zum Völkermord an den Armeniern hält, ist ja hinlänglich bekannt.

Das Universum liebt die Ironie. Es ist wirklich beachtlich, wie sehr es ebendiese Ironie in dieser gesammelten Komödie geradezu zelebriert. Seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 ließ die türkische Regierung mehr als 100.000 mutmaßliche Putschisten bzw. Menschen, die diesen mutmaßlich nahestehen aus ihren Ämtern und Positionen entfernen oder sogar verhaften. Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes wurde eine Politik der Unterdrückung und der faktischen Gleichschaltung der Medien etabliert. Eine freie Presse ist ebenfalls nicht mehr erkennbar. Ganz im Gegenteil. Freie Meinungsäußerung ist ebenfalls nur noch genehm, wenn es der Leitlinie der türkischen Regierung entspricht. Das. Ist. Keine. Freie. Meinungsäußerung! Wer aber etwas von anderen verlangt, was er selbst nicht zu geben bereit ist, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Extremist. Und verlogen noch dazu.

Nun ist es an den Personen, welche die Radikalisierung in der türkischen Politik massiv vorantreiben, Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vermeintliche Lektionen in Demokratie zu erteilen. Das allein ist schon zumindest amüsant, zeugt es doch von einer verfälschten Selbstwahrnehmung. Tatsächlich hat die aktuelle Rhetorik aus Ankara sehr viel von den Reden eines Joseph Goebbels, welcher immer wieder laut bellend „die Anderen“ angriff, ihnen jegliches Recht auf Meinungsäußerung absprach und immer und immer und immer wieder reklamierte, dass nur sie, die Nationalsozialisten wüssten, was gut für ihr Volk und was wahr für alle anderen wäre.

Es ist auch immer wieder laut bellend aus Ankara zu vernehmen, dass sich andere Länder nicht in die inneren Angelegenheiten einzumischen hätten. Gleichzeitig aber poltert man nun wild, wenn ein türkischer Minister nicht in Deutschland oder den Niederlanden reden kann. Nun, Deutschland ist nicht die Türkei. Die Niederlande sind nicht die Türkei. Andere Länder, andere Regeln.

Um der Verlogenheit der türkischen Regierung noch die Krone aufzusetzen, sei hier auf Artikel 94/A des türkischen Wahlgesetzes verwiesen: „Im Ausland und in Vertretungen im Ausland kann kein Wahlkampf betrieben werden.“ Dieses Gesetz wurde 2008 von der AKP eingeführt.

Vorschlag zur Güte

Cem Özdemir forderte kürzlich, in der Türkei auftreten zu dürfen. Gehen wir noch ein paar Schritte weiter. Die türkische Regierung erlaubt Auftritte von türkischen und türkeistämmigen Politikern in Istanbul, Ankara und anderen Städten des Landes. Auf diesen Veranstaltungen werden die verschiedenen Kollisionen der geplanten Verfassungsänderung mit der UN-Charta thematisiert, sodass sich die Wähler entsprechend offen und ausgewogen informieren können. Man würde damit eine zweite Meinung zulassen. Einen echten Diskurs, wie er in einer funktionierenden Demokratie üblich und notwendig ist. Aufgrund der vielen leidenschaftlichen Einlassungen türkischer Regierungsmitglieder zu Meinungs- und Versammlungsfreiheit sollte man davon ausgehen, dass ihnen klar und bewusst ist, was ebendiese Grundrechte tatsächlich bedeuten. Oder?

Verbrannte Erde

So oder so. Unabhängig davon wie nun das Referendum in der Türkei ausgehen wird. Die Beziehungen zwischen eben der Türkei und ihren immer-noch-Partnerländern sind schwer belastet. Präsident Erdoğan hat in seiner Rolle als Wüterich vom Bosporus, unterstützt von weiteren Regierungsmitgliedern dermaßen viel Porzellan zerschlagen, dass es sehr lang dauern wird, bis alles wieder halbwegs in vernünftigen, respektvollen und sachlichen Bahnen verläuft. Von der Spaltung der türkischen Gesellschaft in der Türkei sowie den vielen türkischen Gemeinden außerhalb der Türkei gar nicht erst zu reden.

Die Türkei ist ein wundervolles Land. Mit echt coolen Menschen und einer herausragend guten Küche (nein, ich meine nicht Döner). Gastfreundlich, herzlich. Dass ebendiese Menschen nachhaltig unter diesem nationalistischen Wahnsinn leiden werden, tut mir unsagbar weh und macht mich sehr traurig. HÖRT. AUF. MIT. DEM. SCHEISS!