Thriller in Erfurt
Thriller in Erfurt

Thriller in Erfurt

Nach dem eher (zumindest für einige) überraschenden Ausgang der Ministerpräsidentenwahl unternimmt der Erfurter Landtag am 4. März 2020 nun den zweiten Versuch die verwaiste Staatskanzlei zu besetzen. Durch die Kandidatur von Bernd Höcke (AfD) dürfen wir auf die morgigen Ränkespiele gespannt sein. Es wird vermutlich noch spektakulärer als bei der ersten Wahl.

In diesem Beitrag soll es aber nicht noch mal um das politische und auch mediale Theater rund um die erste Wahl gehen. Vielmehr möchte ich einen Blick auf das werfen, was morgen im Landtag passieren kann. Gestern erst hat der thüringische Führer der AfD in Landtagsfraktion und Partei, Bernd Höcke, seine Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt verkündet. Nachdem zuvor Bodo Ramelow der einzige Bewerber war, der vermutlich spätestens im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt worden wäre, ergeben sich nun verschiedene Szenerien, auf welche ich hier näher eingehen möchte.

Updates nach Erscheinen des Artikels

  • Update 1: Die FDP-Fraktion will bei der Ministerpräsidentenwahl den Plenarsaal verlassen (siehe Eintrag der TA von 12:14). Lieber gar nicht abstimmen als falsch abstimmen, hm?
  • Update 2: Es gibt eventuell einen Coronavirusfall in der CDU-Fraktion in Thüringen. Ergebnis liegt voraussichtlich heute Abend vor (siehe Eintrag der TA von 14:47). Je nach Befund muss die Ministerpräsidentenwahl verschoben werden.
  • Update 3: JU-Chef fordert, dass die CDU-Fraktion ebenfalls bei der Ministerpräsidentenwahl den Plenarsaal verlässt. (aufgrund der Updates 1 und 3 habe ich den Artikel um das Szenario 4 erweitert)

Die Ausgangssituation

Bei der thüringischen Landtagswahl 2019 gelang es der bis dato regierenden Rot-Rot-Grünen Koalition nicht die erforderliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich zu vereinen. Nach Auszählung aller Stimmen stellte sich die Sitzverteilung im neuen Landtag so dar:

Rot-Rot-Grün kommt also auf insgesamt 42 Sitze. Damit fehlen 4 Sitze für die absolute Mehrheit (46 Sitze), welche zumindest in den ersten beiden Wahlgängen für die Wahl des Ministerpräsidenten bzw. Ministerpräsidentin notwendig ist. Im dritten Wahlgang hingegen genügt die einfache Mehrheit und über diese verfügte man ja – so dachte man wohl auch bis in den Februar 2020 und dem Wahldebakel. Rechnet man die Stimmen der anderen Parteien nämlich zusammen, kommt man auf 48. Ausreichend für die Wahl des Ministerpräsidenten bzw. der Ministerpräsidentin. So wurde dann der mutmaßliche Liberale Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt. Da aber auch die AfD mit ausreichend Abgeordneten für ihn gestimmt hatte und er sonst nicht Ministerpräsident geworden wäre, gab es die folgenden Turbulenzen, weil Thomas Kemmerich nur durch die Stimmen der rechtsextremen AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Wenn man so mag, sind die Stimmen der AfD für Demokraten fast toxisch.

So oder so: an der Sitzverteilung im Landtag hat sich nichts geändert. Wohl aber an einem zu erwartenden Wahlverhalten von FDP und Union (tendenziell enthalten sich alle Abgeordneten der beiden Parteien), sodass Bodo Ramelow spätestens im dritten Wahlgang mit einfacher Mehrheit gewählt würde.

Damit hätte nach den Irrungen und Wirrungen der letzten Wochen dieses auf so vielerlei Ebenen unrühmliche Kapitel in der jüngeren deutschen Demokratie einen recht versöhnlichen Abschluss gefunden. Und man dürfte gespannt sein, wie sich die neue Minderheitsregierung in den kommenden Wochen und Monaten schlägt.

Der entstandene Schaden ist natürlich nicht mal einfach so wieder wettzumachen und dass die Union nun im April voraussichtlich einen neuen Vorsitz bekommt, hängt auch maßgeblich mit den Vorkommnissen in Thüringen zusammen. Man hätte aber wieder zu den demokratischen Gepflogenheiten zurückgefunden. Und diese setzen nun mal voraus, dass man nicht mit Faschisten paktiert.

Szenario 1 („Happy Flow“)

Genau diesen Ablauf beschreibt auch das Szenario 1. Ich arbeite als Projekt- bzw. Prozessmanager und hier bezeichnet man den „Happy Flow“ als das, was im Ablauf geschieht, wenn alle kritischen Annahmen zutreffen, es also keine Abweichungen oder Entscheidungen gibt.

Bodo Ramelow tritt gegen Bernd Höcke an. Aufgrund der Konstellation im Landtag gelingt es keinem der beiden die notwendige absolute Mehrheit zu erringen: Ramelow bekommt die Stimmen der R2G-Koaltion (42), Höcke die seiner Partei (22) und die anderen beiden Parteien (insgesamt 26 Stimmen) enthalten sich. Diese Prozedur wiederholt sich im zweiten und dritten Wahlgang und nach diesem wäre Bodo Ramelow dann der neugewählte Ministerpräsident Thüringens.

Auch in Szenario 2 treten Bodo Ramelow und Bernd Höcke gegeneinander an. Auch hier stimmt R2G für Bodo Ramelow und sowohl FDP als auch die Union enthalten sich. Nun aber stimmen mindestens 4 AfD-Abgeordnete für Bodo Ramelow, womit dieser 46 Stimmen auf sich vereinen könnte und somit ebenfalls neuer Ministerpräsident Thüringens wäre. Mit ebendiesen mindestens 4 Stimmen der AfD. Es wäre also genau das eingetreten, was auch im Februar zur Wahl Thomas Kemmerichs passiert ist: Der neue Ministerpräsident wäre mit (entscheidenden) Stimmen der AfD gewählt.

Nun steht Bodo Ramelow beinahe vor der Quadratur des Kreises: nimmt er die Wahl an, wäre er mit Stimmen der AfD gewählt worden (auch wenn man anschließend herumlaviert und argumentieren würde, dass Ramelow ja so oder so im dritten Wahlgang gewählt worden wäre, würde das ja nichts an der Tatsache ändern, dass er eben mit den entscheidenden Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde). Die wohl bessere Option in diesem Szenario wäre tatsächlich die Wahl nicht anzunehmen und so vorzeitige Neuwahlen des Landtages herbeizuführen.

Unterm Strich stünde aber für den Moment erst mal ein Triumph Bernd Höckes und seiner AfD. Diese hätten nun schon in der zweiten Runde alle anderen Parteien im Landtag vorgeführt und auch damit demonstriert, dass es für die bürgerliche Seite (so betrachtet sich die AfD ja immer noch selbst – wie auch immer sie darauf kommen mag) nur noch die AfD gibt, weil ja alle anderen, insbesondere FDP und CDU, lieber einen linken Ministerpräsidenten passiv mitwählen als einen bürgerlichen Kandidaten (so in etwa ging auch bereits bei der Wahl Kemmerichs die blaue Storyline).

Eventuell tritt dieses Szenario auch erst beim zweiten Wahlgang ein, sodass anhand eines Vergleiches der Ergebnisse klar nachvollzogen werden kann, dass Ramelow eben mindestens 4 Stimmen von der AfD bekommen hat. Denn auch wenn die Wahl geheim ist, lassen sich solche Rückschlüsse ziehen.

Szenario 3 („Der demokratische Dammbruch“)

Nein, nicht der Damm, der noch im Februar von FDP und Union pulverisiert wurde. Hier brechen tatsächlich die Dämme bei FDP und Union in der Art, dass ausreichend Abgeordnete einer oder beider Fraktionen bereits im ersten und ggf. notwendigen zweiten Wahlgang für Bodo Ramelow stimmen. Das wäre die aus demokratischer Sicht wohl klügste Option. Gleichzeitig würde dieses aber bedeuten, dass sich FDP und Union über ihre vorherigen wild gepolterten Einlassungen bzw. sogar Abgrenzungsbeschlüsse hinwegsetzen. Wäre ein solches Szenario in anderen Bundesländern womöglich sogar aus rein pragmatischer Sicht denkbar, haben sich gerade diese beiden Landesverbände dahin gehend klar positioniert, dass sie eben auf keinen Fall für einen linken Ministerpräsident stimmen würden.

Täten es aber doch ausreichend Abgeordnete (ebenfalls mindestens 4), wäre ebenfalls Bodo Ramelow der neu gewählte Ministerpräsident Thüringens.

Anschließend dürfte es aber in den Fraktionen der beiden Parteien größeren Diskussionsbedarf geben.

Szenario 4 („Die nukleare Option“)

Aufgrund aktueller Meldungen (FDP-Fraktion will bei Ministerpräsidentenwahl den Plenarsaal verlassen, JU-Chef regt dieses für die CDU-Fraktion an) habe ich noch ein weiteres Szenario hinzugefügt: FDP und Union bleiben der bzw. den Abstimmungen fern. Dieses Szenario ist de facto analog zu Szenario 2 (AfD liefert die entscheidenden Stimmen für die Wahl Bodo Ramelows). Allerdings aufgrund der Tatsache, dass sich ebendiese beiden Parteien mit Ansage der Abstimmung und somit etwaigen Verantwortung entziehen wollen, zumindest eine separate Erwähnung mitsamt drastisch benanntem Szenario wert.

Szenario 8.8 („Unhappy Flow“)

Rot-Rot-Grün stimmt geschlossen für Bodo Ramelow und auf der anderen Seite stimmen CDU, FDP und eben die AfD für Bernd Höcke. Damit wäre Bernd Höcke gewählter Ministerpräsident von Thüringen. Ob er die Wahl dann annimmt oder durch eine Ablehnung noch einen weiteren Winkelzug einleitet, bliebe dann noch abzuwarten. Ich würde aber für den Moment davon ausgehen, dass er eine mögliche Wahl annimmt und folglich das Ministerpräsidentenamt Thüringens ausübt.

Die folgenden Tage und Wochen dürften gesellschaftlich und politisch sehr aufregend werden.

Was passiert am 4. März 2020?

Das lässt sich aktuell noch gar nicht richtig abschätzen. Höcke konnte FDP und Union bereits im ersten Durchgang düpieren. Mutmaßlich auch deswegen, weil sich ebendiese beiden Parteien zumindest düpieren lassen wollten. Ebenfalls ist es fraglich, wie stark sich die Bundesparteien in Thüringen einbringen können bzw. Gehör finden. Vermutlich wäre es nicht mal sonderlich überraschend, wenn das Szenario 8.8 (keine Ahnung, wie ich auf diese Bezeichnung gekommen bin) einträte und Höcke erster AfD-Ministerpräsident Deutschlands würde.

Hoffentlich haben die demokratischen Parteien im thüringischen Landtag diese verschiedenen Konstellationen ebenfalls auf dem Schirm und agieren entsprechend. Immerhin schaut es aktuell so aus, dass weder FDP noch Union sonderlich großes Interesse an Neuwahlen haben. Die dort zu erwartenden Stimmverluste würden die darauffolgenden 5 Jahre doch sehr schwierig für sie werden lassen, da R2G mit einer satten (absoluten) Mehrheit ausgestattet würde.

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